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Kultur des Lernens

Was wir fürs Leben lernen – Zeit für einen pädagogischen Kulturwandel

„Das Leben ist doch kein Wunschkonzert.“ Dieses häufige Narrativ beendete abrupt das Gespräch zweier Schwiegereltern über den freudlosen Schulbesuch des Enkelkindes und seine wankelmütige Leistungsbereitschaft. Thema war gleichfalls sein sehr von Gegensätzen geprägtes Denken und Fühlen: ja – nein, entweder – oder, richtig – falsch…
Worte für gefühlte Zwischentöne, für die Akzeptanz von Ambivalenzen und vielfältigen Differenzen aus denen heraus Wertschätzung wachsen kann, fehlten.

Das Leben müsste doch, in einer freiheitlichen und demokratischen Gesellschaft, überwiegend ein Wunschkonzert sein, oder? Und dies nicht nur als Konsument oder Konsumentin, sondern auch im Rahmen der Partizipation: Welches Instrument, welche Rolle und welche Musik möchte ich spielen, möchte ich überhaupt Musik machen oder sehe ich mich eher in anderen Bereichen wie der Technik oder Organisation, dem Service oder …
Und noch etwas ist wichtig: Ein Konzert ist immer auch ein gemeinschaftliches Ereignis.

In der Schule lernt der Mensch, seine Pflichten zu erfüllen. Aber lernt er so auch, mit Freiheit verantwortungsvoll umzugehen? Begriffe wie „Unterricht“, „Erziehung“, „Fachlernen“, „Stunden- und Lehrplan“ etc. beschreiben den Geist, indem Schule ihren pädagogischen Auftrag in der Regel umsetzt. Pflichterfüllung ist etwas anderes als Verantwortung. Pflichterfüllung ist ein Relikt autoritärer Strukturen und für den juristischen Rahmen von Bedeutung. Die konkrete pädagogische Umsetzung muss sich vor allem an dem Auftrag der Schule wie der individuellen Potentialentfaltung, der Bildung von Wissen, Urteilskraft und Kompetenzen sowie der (sozio-)kulturellen Verantwortung der Schülerinnen und Schüler orientieren.

Verschärfend kommt hinzu, dass Schule als individueller und gemeinschaftlicher Lernort auf einer Skala von 1 bis 6 Leistungen bewertet und selektiert. Das wird auch nicht dadurch besser, dass die Skala zum Teil auf 15 Punkte ausdifferenziert und der gebräuchliche Begriff „Zensur“ durch „Note“ ersetzt wurde.

Die Folge: Schule produziert neben Gewinnerinnen und Gewinnern viele Verliererinnen und Verlierer,
– die erforderliche Leistungen nicht erbringen können oder wollen
– oder die geforderte Leistungen erbringen und dafür eigene Wünsche und Ideen aufgeben.

Illustration: Micha Strahl

Menschen, die sich nach der Schulzeit als Verlierer und Verliererinnen fühlen, haben wenig Gründe, das zugrundeliegende Gesellschaftssystem zu bejahen. Sie haben gelernt, dass das Leben kein Wunschkonzert ist. Das ist ein Problem, denn Demokratie ist ein Kind der Freiheit.

Oder anders ausgedrückt: Wir haben es nicht gelernt, in Freiheit zu leben. Denn mit der Freiheit wächst gleichermaßen auch die Verantwortung. Verantwortung ist die eigene Antwort auf die Bedürfnisse anderer Menschen und lebender Wesen.
– Freiheit eröffnet Möglichkeiten in der Welt,
– Verantwortung setzt diese in Beziehung zu den Möglichkeiten und Bedürfnissen der belebten Welt.

Diese Weisheit gehört zum großen kulturellen Erfahrungsschatz der Menschheit. Sie ermöglicht Frieden, Freiheit, Freude und Vielfalt. Die damit zusammenhängenden sinngebenden Fähigkeiten wie Kreativität, Mitgefühl, Verantwortung, Wertschätzung und Zuversicht müssen im Fokus der Bildung erfahrbar, wertgeschätzt, reflektiert und kultiviert werden.

Kulturelle Kompetenz, die verantwortungsvolle Selbstregulierung beinhaltet, ist die Basis freiheitlicher Systeme. Freiheit ist ein kollaboratives soziales Projekt, das gemeinsam gestaltet wird. Weitreichende Prozesssteuerung einerseits oder laissez-faire andererseits sind Indikatoren für unzureichende kulturelle Kompetenz.

Ein egosystemisches Bewusstsein deklariert lediglich den Selbstzweck zum Sinn. Es mangelt an kultureller Kompetenz. Wer Freiheit lebt, ohne Verantwortung zu übernehmen, ist in wesentlichen Bereichen ungebildet. Wenn Pädagogik auf Fachlernen, Didaktik und Intervention bei Regelverstößen reduziert wird, kann der schulische Bildungsauftrag nicht erfüllt werden, z. B. „…alle wertvollen Anlagen der Schülerinnen und Schüler zur vollen Entfaltung zu bringen…“ Darüber hinaus beinhaltet der Auftrag weiterhin:

„Ziel muss die Heranbildung von Persönlichkeiten sein, welche fähig sind, der Ideologie des Nationalsozialismus und allen anderen zur Gewaltherrschaft strebenden politischen Lehren entschieden entgegenzutreten sowie das staatliche und gesellschaftliche Leben auf der Grundlage der Demokratie, des Friedens, der Freiheit, der Menschenwürde, der Gleichstellung der Geschlechter und im Einklang mit Natur und Umwelt zu gestalten.“

– (Schulgesetz für das Land Berlin vom 26. Januar 2004, § 1 Auftrag der Schule, Satz 1 u. 2)

Nach wie vor wird übersehen, in welch hohem Maße die Lern- und Schulkultur einen pädagogischen Rahmen setzt, der die Bildung von Wissen, Werten und Kompetenzen prägt und Chancengerechtigkeit ermöglicht oder schmälert.

„Die Resonanzen, die Kinder und Jugendliche in der Schule von ihren Lehrkräften erhalten, sind von überragender Bedeutung. Sie sagen dem Kind etwas über sich selbst und, noch bedeutsamer, über seine Zukunft. Resonanzen haben die Kraft einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung, sie öffnen und schließen Möglichkeitsräume.“

Joachim Bauer (2022, S. 119)